Themenspecial: Familien mit Kindern mit Beeinträchtigung
Die Sonne wärmt am ersten Frühlingstag. Die Schlange vor der Eisdiele ist lang. Alle freuen sich auf ein leckeres Eis und warten geduldig - nur ein etwa 4-jähriges Kind kann nicht stillstehen und tanzt aus der Reihe. Es schreit und zerrt an der Hand seiner Mutter, die zunächst ruhig mit ihm spricht, aber unter den kritischen Blicken der anderen langsam nervös wird. "Unerzogen!", zischt jemand. "Unglaublich, dass er nicht mal kurz warten kann!". Die Familie verlässt die Reihe.
Solche unangenehmen Situationen sind Alltag für mehrere Familien, deren Kinder das Integrative-Montessori-Kinderhaus St. Martin des SkF e.V. Gießen besuchen. "Unsere Kinder sehen ganz normal aus. Man sieht Ihnen nicht an, dass sie Autismus haben", berichtet ein Vater von zwei Kindern mit Autismus. "Wenn wir mit dem Bus fahren, sind sie laut und nehmen keine Rücksicht auf die anderen Fahrgäste. Da gucken einen die Leute schief an, so nach dem Motto: Das sind unerzogene Kinder. Aber wir können sie nicht erziehen, egal, welche Mühe wir uns geben".
Von Scham, dem Gefühl, es nicht hinzubekommen, erzählt auch eine zweite Mutter im Gespräch. Dabei sehnen sich die Eltern nach Normalität, nach Dingen wie gemeinsam zum Einkaufen, Eisessen auf den Spielplatz zu gehen. Die Reaktionen anderer Menschen sind nur ein Teil von dem, was Familien mit beeinträchtigten Kindern das Leben schwer macht. Ihr Alltag ist extrem anstrengend, und das auf Dauer. "Wenn ich irgendwo sitze, kommt mein Sohn dreimal innerhalb von einer Minute, zieht an meiner Hand und möchte, dass ich komme", berichtet ein Vater. Kinder mit Autismus finden nur sehr schwer zur Ruhe, häufig können sie ohne Gabe eines Medikaments gar nicht schlafen.
"Eltern berichten, dass sie teilweise seit Jahren nicht mehr richtig schlafen", sagt Mechtild von Niebelschütz, Leiterin des Integrativen Montessori-Kinderhauses. "Wenn noch Sprachschwierigkeiten oder Geldsorgen dazukommen, kann das bedrohlich werden". Obwohl gerade sie dringend Entlastung benötigen, haben sie es schwer, Betreuungsplätze in Kitas, einen Babysitter oder eine Schule zu finden, die zu den Bedürfnissen ihrer Kinder passt.
In der Kita wurden Wege gefunden, die Situation für betroffene Familien zu verbessern. Es gibt Vernetzungsangebote wie Elternabende, bei denen Eltern als Experten für ihre Kinder aus ihrem Alltag berichten. "Die Situation für Familien mit beeinträchtigten Kindern zu verbessern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", sagt Mechtild von Niebelschütz. Am Ende profitieren alle Kinder und Familien davon, wenn ihre Bedürfnisse gesehen und berücksichtigt werden. Denn: Jeder Mensch ist besonders und hat das Recht, individuell gefördert zu werden. Damit Wirklichkeit wird, was ein Vater als seinen großen Wunsch formuliert: "Wir wünschen uns , dass unsere Kinder später selbstständig Leben können".