"Sie haben nicht geschaut, was „man“ endlich tun müsste, sondern sie haben es selbst getan."
Liebe Festgemeinde!
In der Lesung, die wir gehört haben (1 Kol 15-20), wird Jesus Christus mit großen Worten beschrieben. Er ist der Erstgeborene der ganzen Schöpfung, heißt es dort. In ihm hat alles Bestand. Er ist das Haupt des Leibes, der Kirche. Große Texte, die uns Jesus vielleicht in die weite Ferne rücken. Und dennoch könnte ich jeden dieser Sätze unterschreiben.
Jesus ist für mich der Sohn Gottes und unsere Worte und Vorstellungen kommen an Grenzen. In vielen Evangelientexten ist uns Jesus näher, ganz besonders in den Texten, in denen Jesus sich Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen zuwendet. Er heilt die Kranken, er vergibt die Schuld, er besucht die Sünder zuhause. Er ist ganz nah bei den Menschen.
Im Johannesevangelium gibt es einen Satz über Jesus, der mich immer wieder fasziniert hat. Dort heißt es sinngemäß: Jesus braucht keine Informationen über den Menschen, ihm braucht niemand etwas über die Menschen zu sagen, denn er wusste, was im Menschen ist (vgl. Joh 2, 24). Das können wir von uns so nicht sagen. Wir müssen sehr genau hinschauen und sehr genau hinhören, um zu erkennen, was der einzelne Mensch braucht. Wir haben nicht für jeden Menschen die passende Antwort. Die vielen Beispiele, in denen sich Jesus den Menschen zuwendet, zeigen auch, dass für ihn keine Not zu klein war, keine Bedrängung zu banal oder alltäglich. Keine Not lässt er links liegen. Er begegnet den Menschen in Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Dabei geht es ihm nicht nur um die Seele und das Seelenheil, sondern um jede Form von Bedürftigkeit. Jeder Mensch ist bedürftig und niemand kann sich vor Gott brüsten, dass er oder sie ohne Hilfe anderer auskäme.
Bei allem, was er über sie weiß: Jesus nimmt die Menschen doch sehr ernst. In einem Evangelium fragt er den Kranken "Was willst du, dass ich dir tue?" (Lk 18, 41). Das zeigt: Jesus schenkt den Menschen nicht einfach von oben herab, mit einem Fingerschnippen Gesundheit oder Heil. Er will, dass der Mensch seine Not erkennt.
Von Anfang an werden diese Geschichten nicht nur als Erinnerung an Jesus überliefert, sondern sie sollen Anreiz für die Gemeinden, für das Handeln der Christinnen und Christen sein. Diejenigen die Jesus folgen, sollen genauso barmherzig sein. Sie sollen genauso aufmerksam sein, achtsam sein gegenüber dem, was die Menschen brauchen. Sie werden dann nicht immer schon mit fertigen Antworten oder Therapien kommen, sondern erst einmal hören: Was willst du, dass ich dir tue? Sie werden dem bedürftigen Menschen begegnen in dem Bewusstsein, selbst bedürftig zu sein.
Neben der Barmherzigkeit haben sich christliche Gemeinden auch immer für die Gerechtigkeit eingesetzt. Sie haben darauf aufmerksam gemacht, was dem Menschen zukommt, was ihm zusteht. Agnes Neuhaus hat bedeutende Sätze über das Miteinander von Menschen gesagt. Ein Zitat möchte ich zunächst nennen. Sie sagt: "Es ist unendlich viel zu machen und zu helfen, wenn nur jemand da ist, der es tut." Was Agnes Neuhaus sagt, haben so viele Engagierte im Sozialdienst katholischer Frauen auch in Gießen über 100 Jahre verwirklicht. Sie haben nicht geschaut, was "man" endlich tun müsste, sondern sie haben es selbst getan. Sie haben gemerkt: Wenn ich es nicht tue, tut es niemand. Und es gibt so viel zu tun, so viel Aufmerksamkeit zu schenken, so viel Achtsamkeit gegenüber anderen Menschen.
In diesen 100 Jahren haben viele Menschen auch hier in Gießen gefragt: Was willst du, dass ich dir tue? Sie haben Barmherzigkeit gezeigt, indem sie sich den Menschen zugewandt haben. Und sie haben immer wieder auch die Stimme für Gerechtigkeit erhoben. Auch in der heutigen Zeit bleibt das wichtig.
Die barmherzige Zuwendung und das Bemühen um Gerechtigkeit - von Anfang an war auch dieser politische Ansatz ein Grundanliegen der Kirche. Die Kirche hat sich nicht nur auf das Seelenheil der Menschen beschränkt, sondern eben auch die vielfältige Bedürftigkeit von Menschen ernst genommen. Da gibt es keine Not, die zu banal, die zu alltäglich wäre.
Wir haben es in der Flutkatastrophe gemerkt: Menschen haben einander geholfen. Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe sind kein christliches oder gar katholisches Privileg. Aber Christinnen und Christen helfen, weil sie sich in der Nachfolge Jesu sehen. Die Erfahrung des der Menschlichkeit in einer solchen schlimmen Situation wie der Flut vor wenigen Wochen zeigt, wozu der Mensch an Gutem fähig ist. Und das macht Mut, denn der Mensch ist nicht schlecht. Der Mensch ist als Ebenbild Gottes zu so viel Gutem fähig.
Ich will ein zweites Wort von Agnes Neuhaus zitieren. Sie sagt "Jede liebevolle Tat wirkt irgendwie weiter, ob wir es beobachten oder nicht". Tatsächlich können gerade Menschen, die sich für andere einsetzen, den Erfolg ihres Arbeitens weder messbar noch schnell erleben. Sie säen aus, sie bringt Frucht, die gute Tat. Diese Erfahrung können sicherlich viele machen, die mit Menschen arbeiten, ob als Lehrerinnen oder Lehrer, in der Caritas, in der Zuwendung in den heilenden und pflegenden Berufen. Auch Eltern können davon berichten. Sie säen und setzen viel Gutes in ihre Kinder, aber den schnellen Erfolg können sie oft nicht sehen. Deswegen braucht es Menschen, die sich in diesem Vertrauen und in dieser Geduld der Bedürftigkeit anderer Menschen zuwenden und mit großer Achtsamkeit und Aufmerksamkeit diese Menschen fragen: Was willst du, dass ich dir tue?
Ich darf an diesem Tag des 100-jährigen Jubiläums dankbar an die vielen Menschen erinnern, die sich hier engagiert haben. Und ich darf den vielen Danke sagen, die sich heute engagieren. Ich bin davon überzeugt, dass wir hier eine Kernaufgabe der Kirche verwirklichen: Zuwendung zu Menschen in jeder Form von Bedürftigkeit.
Danke an alle und Gott möge ihr, unser Handeln segnen, denn letztlich sind wir die Hände und die Arme Gottes in dieser Zeit, an diesen Menschen. Gottes Segen und herzlichen Dank.